Ich bin als jüngstes von drei Geschwistern in Zug aufgewachsen. Nach der Primarschule besuchte ich die Sek im Schulhaus Loreto in Zug. Einen bestimmten Berufswunsch hatte ich nicht, dachte aber, die kaufmännische Richtung könnte mir zusagen. Nach einem Jahr Handelsschule in der Athene war mir klar: Das ist es nicht. Ich wechselte in den Übergangskurs und im Jahr danach ins vierte Gymnasialjahr des Typus C. Mir gefielen die Mathematik sowie die Darstellende Geometrie und ich interessierte mich zunehmend für das Gestalten von Räumen und Gebäuden.
Nach der Matura besuchte ich einen Sommerkurs von «Form und Farbe» (heute ffzh.ch) in Zürich, der fotografische und gestalterische Grundlagen vermittelte, die mir neue Sichtweisen eröffneten. Mich faszinierte einerseits das eher Technische, das ich von der Kantonsschule kannte, und anderseits das Gestalterische, Räumliche, zu dem ich erst nach der Matura den Zugang fand.
Bildnerisches Gestalten und Zeichnen habe ich an der Kanti als spannend empfunden, meine Noten waren jedoch eher unter dem Durchschnitt. Trotzdem habe ich mich entschlossen Architektur an der ETH Zürich zu studieren. Meine Eltern – mein Vater war Elektro-Ingenieur ETH – sowie meine Mutter unterstützten und ermutigten mich zu diesem Schritt.
1979 begann ich mit dem Studium an der ETH. Das war schon damals ein durchstrukturiertes Studium, phasenweise waren die Aufgaben so zeitintensiv, dass manche Studierende in den Schulräumen übernachteten! Das Studium beinhaltete Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Städtebau. Diese Vorlesungen waren sehr interessant, wurden jedoch zu Studienzeiten vernachlässigt, da das Entwerfen von Räumen und Gebäuden Vorrang hatten. Ende Semester stellten wir jeweils unser Projekt vor. Ich hatte grossen Respekt vor der Präsentation und der Kritik der Professoren. So kam es auch, dass ich ein Zwischenjahr in Frankreich einschaltete, da mich das Studium zeitweise überforderte.
Die Aufgaben im Architekturstudium waren phasenweise so zeitintensiv, dass manche in den Schulräumen übernachteten!
Nach dem Diplom im Jahre 1986 arbeitete ich ein Jahr in einer Generalunternehmung, merkte aber sehr schnell, dass diese Arbeit mich nicht befriedigte. Ich beteiligte mich mit einer Freundin sowie mit meinem späteren Partner Ruedi Vogt an offenen Architekturwettbewerben und wir wurden selbständig. Nachdem wir mehrere Wettbewerbe gewonnen hatten, gründeten wir das Architekturbüro Kistler / Vogt in Biel.
Wir akquirierten unsere Aufträge vorwiegend durch Architekturwettbewerbe. So konnten wir verschiedenste spannende Bauaufgaben in der ganzen Schweiz realisieren. Die Baukultur und das Engagement im Beruf sind mir wichtig. Ich bekam auch die Chance, in vielen interessanten und spannenden Wettbewerben als Jurymitglied Einsitz zu nehmen und meinen Beitrag zu städtebaulich überzeugenden Lösungen zu leisten.
Heute bin ich immer noch als Architektin tätig, da mir der vielseitige Beruf Freude bereitet. In all den Jahren habe ich festgestellt, dass mit der Digitalisierung und unseren heutigen Ansprüchen an ein Gebäude die Arbeiten immer komplexer werden und es immer mehr Spezialisten benötigt. Die Architektin hat die Aufgabe, den Überblick über das Gesamtwerk zu behalten, und im Vordergrund steht eine räumlich und gestalterisch gute Lösung für den Benutzer und den städtischen Kontext, bei der die Spezialisten integriert sind, jedoch nicht dominieren.
Wer heute Architektur studiert, sollte neben der Freude und Neugier für räumliche, technische und betriebliche Fragestellungen auch die Bereitschaft zur Kommunikation haben, nämlich mit Bauherren, Mitarbeitern, Behörden, Fachplanern, Handwerkern usw. Und ohne gehöriges Durchhaltevermögen kommt man nicht ins Ziel, das heisst zur Eröffnung eines Gebäudes!
Text: Silvia Kistler / Christa Kaufmann, September 2023
Foto: ZVG